A wie Angst – KiWu-ABC
- Oktober 12, 2022
- by
- Natalya Matyashek
Meine größte Angst: Unerfüllter Kinderwunsch für immer
Packen wir das große Tier zuerst an: meine größte Angst an der ganzen KiWu-Sache war es, unfreiwillig kinderlos zu bleiben. Für immer, für den Rest meines Lebens.
Es braucht keine Diagnose, die es einem knallhart ins Gesicht brüllt.
Mehrere Versuche, vielleicht ein-zwei Jahre, in denen man es entspannt hat angehen lassen und in denen nichts geschehen ist, genügen.
Niemand sagt: “Nun ja, dann halt nicht.” Der Gedanke daran, dass der Kinderwunsch unerfüllt bleiben könnte, ist niederschmetternd und lähmend. Und er begleitet uns übrigens bei allen Behandlungen, für die frau sich entscheidet. (Und er verschwindet auch dann nicht, wenn frau ein Kind im Arm hat – aber das ist ein ganz anderes Thema.)
Frau wird nervös, frau bekommt Angst, frau weiß: etwas stimmt nicht.
Aber was genau nicht stimmt, ist nicht klar. Der Weg zur Klarheit führt unweigerlich zu einer Arztpraxis mit Untersuchungen, Blutabnahmen, Ultraschalls, Ausfüllen von Fragebögen und dem strengen und mitleidslosen Blick der Arzthelferinnen.Und eventuell mit einer Diagnose, die dem Kinderwunsch erst einmal Schwarz auf Weiß einen Riegel vorschiebt: Schilddrüse, Gelbkörperschwäche, Eileiterverschluss, PCOS, Endometriose und noch viel mehr Dinge, von denen man noch nie gehört hat.
Die Vernunft befiehlt: Geh zum Arzt und finde es heraus. Die Angst pustet dunklen Rauch ins Gesicht.
Wenn einem klar wird, dass die Chancen schlecht stehen, bekommt der Konjunktiv I etwas Fatalistisches.
Mein Mann und ich sitzen im Auto. Hinten im Kofferraum liegt irgendwas für unsere morgige Hochzeit, die wir im engen Freundeskreis bei uns zuhause feiern würden. Er sagt, er habe eine Überweisung in eine Kinderwunsch-Klinik bekommen, ich müsse auch eine von meinem Gynäkologen bekommen.
In diesem Moment erhebt sich ein riesiger Schatten über mir, über meinem Leben, über meinem Körper, über meiner Beziehung. Und ich bekomme Angst.
Ich höre auf zu atmen, keine Sauerstoffzufuhr, ich spüre meine Füße nicht, dann meine Knie, dann die Oberschenkel, dann das Becken, dann den Bauch, dann die Brust, dann schnürt sich mir der Hals zu und dann wird es dunkel. Der Schatten nimmt mir das Licht.
Meine Angst war riesengroß, unfassbar und monströs und diese Monstrosität brachte mir im Laufe der Zeit sehr viel Leid.
Wenn ich heute zurückblicke, war diese Angst der schwierigste Teil der ganzen Geschichte.
Furcht-Einheiten: sich fürchten lernen
Ganz lange wusste ich meine Angst nicht zu packen. Ich ging damit in die Therapie und lernte, mich zu fürchten und meine große Angst in Furcht-Einheiten zu zerlegen – so nenne ich sie, die kleinen, klar umrissenen und ehrlichen Antworten auf schmerzvolle Fragen.
Ich fürchtete mich davor, etwas nicht haben zu können, was ich mir sehnlichst wünschte und was um mich herum jede zu haben schien; ich fürchtete mich vor dem Schmerz, der mich mein ganzes Leben begleiten würde; ich fürchtete mich vor Enttäuschung; ich fürchtete mich ganz schrecklich vor aufdringlichen Fragen, die meine Wunde immer wieder aufreißen würden. Ich fürchtete mich vor lebenslanger Trauer.
Bei näherem Betrachten stellte sich heraus, dass all das Dinge waren, die ich schon lange vor meinem unerfüllten Kinderwunsch kannte: Neid, Schmerz, Alleinsein, Enttäuschung, Trostlosigkeit, tiefe Wunden, Trauer. Ich fürchtete mich also vor nichts Unbekanntem.
So funktioniert anscheinend Furcht: wir können uns vor nichts fürchten, was wir nicht kennen. Hinter dem großen und diffusen Gefühl der Angst steckte ein Bündel alter Emotionen und Erfahrungen, die tief zurück in die eigene Kindheit führten. Und das sind Dinge, mit denen sich zweifelsohne besser arbeiten lässt als mit dunklen Rauchschwaden.
Nur weil ich diese Idee verinnerlicht habe, lebe ich noch lange nicht angstfrei – ganz im Gegenteil: ich lasse mehr Angst zu und versuche zu begreifen, was wirklich dahintersteckt und wovor ich mich fürchte. Ich habe Angst – und nicht anders herum.
Meine Übung für weniger Angst und mehr Furcht-Einheiten:
Die Idee:
Ich habe noch keinen griffigen Namen für diese Übung, aber das ist ein Ding der Zeit.
Die grobe Idee dahinter ist: wir lassen unsere Angst zu – und raus. Raus auf das Blatt, das vor uns liegt, aus der Farbe und aus dem Körper heraus, nicht aus der Form. Wir malen und zeichnen keine Gegenstände und erzählen keine Geschichten, sondern lassen uns ganz auf eine Farbe oder eine Farbpalette ein (das überlasse ich erst einmal euch). Kritzeln, Reiben, Kratzen, Punkte, Spirale – alles ist erlaubt.
Später, wenn das Blatt fertig ist, zerschneiden wir es in möglichst gleichmäßige Quadrate. Quadrat steht für Ordnung.
Jedes Quadrat ist eine kleine Furcht-Einheit und aus diesen bauen wir unsere Komposition.
Diese Übung könnt ihr regelmäßig machen – am besten in einem A4- oder A5-Skizzenbuch oder Heft.
Hier die Übung in Zeitraffer:
Was wir brauchen:
- zwei Bögen Papier, falls ihr es ohne Buch oder Heft macht, oder nur einen Bogen, wenn die Arbeit in ein Skizzenbuch kommt;
(es wird einen gesonderten EIntrag übers Papier geben – nehmt das, was gerade da ist!) - eine am besten ergonomische Schere;
- Klebstoff – ob Flüssigkleber mit Pinsel oder fester Stick, ist egal;
- ein Medium eurer Wahl: Buntstifte, Pastellöl- oder Wachsmalkreiden, dicke Filzstifte oder Layoutmarker (Wasserfarben und Acryl gehen auch, es dauert nur länger, bis alles trocken ist) – wichtig ist nur, dass wir mit möglichst großzügig das Blatt vollbekommen. (Ich liebe dicke weiche Kreiden dafür.)
Was wir machen:
- Ein Raster für unsere Quadrate
Es kommt auf die Rückseite des Blattes, das wir bemalen werden.
Eine Kantenlänge von 2,5 bis 3 cm ist gut, wenn man nicht stundenlang wuseln möchte.
Die Idee, sich für jede Übung ein Raster zu zeichnen, fand ich eher frustrierend.
Deshalb erstellte ich eine PDF-Datei mit zwei unterschiedlich großen Rastern – für alle, die nicht sofort ein großes Geodreieck, ein Lineal und einen gut gespitzten Bleistift parat haben und akribisch die Linien ziehen will.
Also einfach die Seite mit dem Raster ausdrucken und auf die Rückseite des Blattes aufkleben.
- Wir füllen das Blatt.
Scheut euch nicht, Farben zu nehmen, die euch gefallen.
Scheut euch nicht, aus dem Körper heraus zu arbeiten – dem Handgelenk und der Schulter. Niemand schaut zu, niemand wertet es. Schüttelt alles raus, macht es mit beiden Händen gleichzeitig, macht es zügig oder langsam. - Wir schneiden die Quadrate.
Nehmt euch eine Schere, die gut in der Hand liegt, und schneidet das Blatt in längere Streifen und die Streifen dann in einzelne Quadrate. - Komposition!
Das ist der schönste Teil der Übung. Schaut euch eure wunderschönen Quadrate an. Legt sie aus und betrachtet sie, dreht sie hin und her und legt sie zu 4er-Quadraten zusammen. - Aufkleben:
Klebt die 4er-Quadrate in euer Skizzenheft oder auf den zweiten Bogen Papier. Ich habe den Abstand zwischen den großen Quadraten geschätzt. Wer es wirklich genau machen will, braucht ein Lineal und einen Bleistift – und Freude an Geometrie. - Unsere Gefühle in Ordnung wissen:
Die neuen Quadrate bilden ein Fleckchen Ordnung mitten in der schwammigen Angst. Sie sind kleine Inseln – überschaubar und schön anzusehen, berechenbar und vertraut.
Fazit: do it!
Diese Übung ist einfach aber sehr hilfreich gegen große und diffuse Gefühle, die man nicht greifen kann. Sie bildet eine Basis für einen ganzen Übungskomplex, der gerade in Arbeit ist.
Ich lade alle, die das lesen, herzlich ein, sich Zeit zu nehmen und es auszuprobieren. Es wirkt und macht unglaublichen Spaß!