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„Das wundersam Verlangen“

„Das wundersam Verlangen“

Vor einem habe ich erfahren, dass Schellenursli eine jüngere Schwester hat, Flurina.  (Ich spekuliere, dass nach dem Erfolg von Schellenursli  eine Fortsetzung nötig war, und dass diese ohne eine weibliche Figur nicht möglich gewesen wäre.)

Der Schellenursli und seine recht einfach gestrickte Initiation (Pubertät, peer pressure, klassische Heldenreise, Rückkehr, Neuverhandlung gesellschaftlicher Verträge) lässt mich nach  1,5 Jahren Vorlesen eher kalt.

Flurina erlebt eine auf den ersten Blick weniger aufregende Geschichte, über die ich aber seit einem Jahr immer wieder stolpern muss. Warum eigentlich?

Flurina wächst mit ihrer Familie in Guarda auf. Ihr Leben auf dem Dorf ist durch und durch vor-modern: klassische Rollenverteilung, vorgezeichnete Lebensentwürfe, starke Prägung durch traditionelle Kultur.
Sie ist kurz vor oder in der Pubertät und bereitet sich auf ihre weibliche Rolle im Erwachsenenleben vor: Care-Arbeit ohne Ende und ohne die geringste Wertschätzung. 

Im Sommer zieht die ganze Familie in ihre Almhütte. Dort hütet das Mädchen ihre drei Ziegen und kümmert sich um die Hühner. 
Öfter liegt sie dabei im Gras und schaut in den Himmel. Plötzlich kommt es über sie: „Sie hat ein wundersam Verlangen, das Licht der Sonne einzufangen.“ Aber die Sonne scheint nur durch ihren Blumenkranz hindurch. 

(Friss das, Schellenursli. Eine durch Gruppenzwang motivierte „Helden“-Reise vs. tiefer Einblick in das Innere eines Mädchenherzens.)

Flurina entdeckt im Wald ein verwaistes Birkhuhnküken und nimmt es mit auf die Hütte. Sie pflegt es und kümmert sich rührend um den Vogel, füttert es aus Puppentassen und legt es im Körbchen neben sich schlafen. Es ist der Höhepunkt Flurinas Care-Arbeit: das Wildvöglein ähnelt einem Säugling.

Sehr bald ist der Vogel ausgewachsen und sehnt sich nach seinem natürlichen Habitat. Es macht erste Flugversuche. Schweren Herzens nimmt Flurina Abschied von ihrem Zögling: die Liebe in ihrem kleinen Herzen ist so groß, dass sie es nicht wagen würde, das kleine Wesen in Unfreiheit leben (und schließlich sterben) zu lassen. 

Der Vogel ist fort, das Mädchen trauert ihm nach.

Es stapft den Berg hoch auf der Suche nach dem Nest des Vogels, immer weiter, immer höher. Es will sichergehen, dass es dem Tier gut geht. 
Auf ihrer Wanderung findet Flurina in einem Felsentor einen Bergkristall und nimmt ihn mit zur Hütte. Er leuchtet in bunten Farben und wird daheim kurz bewundert – immerhin, aber auch nicht mehr.

Bald ist die Zeit auf der Alm vorüber und die Familie fährt mit dem Wagen zurück ins Dorf. Flurina hält ihren Schatz fest in der Hand: da hat sie es, das Licht der Sonne. 
Just in diesem Moment fliegt das Birkhuhn über ihr und ruft ihr einen letzten Abschiedsgruß zu. 

An dieser Stelle ist Ende, aber ich denke seit einem Jahr ununterbrochen daran, wie es für Flurina weitergeht. 
Was für große Energien sind freigesetzt worden, als sie sich vom Wildvöglein trennte?
Wofür steht ihr „wundersam Verlangen“ und was hat es für eine Bedeutung für ihr Leben, dass sie es stillen konnte?

In meiner Vorstellung erlangt sie auf ihrer inneren Heldinnenreise ein für die Verhältnisse ihrer konservativen Umgebung unheimliches Selbstbewusstsein und bekommt einenHauch von dem zu spüren, was C.G. Jung unter Libido verstand: die eigene Lebensenergie.

Ich fantasiere oft darüber, dass diese Erfahrungen Flurinas Sprungbrett in die (post)moderne Welt waren – mit einem neuen, in seiner Flexibilität unerhörten Lebensentwurf, radikaler Weltoffenheit und explosiver Umsetzung ihres seelischen Potenzials.

Meine Frage an mich selbst und an alle anderen:

Was ist dein „wundersam Verlangen“?

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